von Jenny Erpenbeck

Einen Wunsch frei

Noch in der Nacht kommt meine Freundin mit zerbissenen Armen nach Haus, das Haar verfilzt, voller Laub, sie lächelt, da kann ich sehen, daß sie Sand zwischen den Zähnen hat, wie Mohn. Ich bin durch den Park gegangen, sagt sie, und ihre Eulenaugen leuchten. Hast du ihn gekannt?, frage ich. Nein, sagt sie, die Kauzige, aber jetzt. Er hat mich sein Fleisch genannt. Das ist schön, sage ich. Siehst du, sagt sie, deshalb bin ich so gern mit dir zusammen, weil du mich nicht verurteilst. Ich studiere dich, sage ich, wie soll ich dich da verurteilen. Du studierst mich?, fragt sie und schüttelt den belaubten Kopf, du studierst mich? Mich?, wiederholt sie fragend, indem sie auf sich selbst deutet, genau, sage ich, und nehme ihren Zeigefinger an mich, der leicht aufwärts gebogen ist und schmutzig. Ich bin sozusagen die Studentin vom Fleisch, sage ich und fahre mit der Zunge an ihrem Finger entlang, bis er wieder sauber ist. Die Studentin vom Fleisch, wiederholt sie, das ist doch etwas Gutes, oder?, fragt sie, aber ja, sage ich, während ich beginne, die Blätter aus ihrem Haar zu sammeln, der Sand knirscht in meinem Mund. Du mußt das nicht machen, sagt sie. Das weiß ich, antworte ich ihr, wenn ich müßte, würde ich nicht. Weißt du, sagt sie, ich möchte ihn gern einmal einladen. Dann werde ich euch allein lassen, sage ich. Nein, nein, sie schüttelt den Kopf, du sollst dabei sein. Wie meinst du das, frage ich, während ich schon sehe, wie ihre Tränen sich bis zur Unkenntlichkeit mit einem goldenen Strahl vermischen. Ich möchte es dir schenken, sagt sie, weil du mir Glück bringst. Du möchtest es mir schenken? Für dein Studium, sagt sie, und ein Lächeln fliegt über ihr marmornes Gesicht, dann spuckt sie auf ihren Arm und reibt das Blut ab. Aber er darf es nicht merken, sagt sie, es soll zwischen uns bleiben.

Einige Tage später borgt sie sich meinen Pelzmantel, und die Schuhe, und auch den Rock? Natürlich, sage ich, und gebe ihr alles her. Sie steht lange vor dem Spiegel und betrachtet sichA, ohne sich zu bewegen, dann stellt sie eine Leiter an den Verschlag über der Küchentür und schiebt mich hinauf. Es gibt ein Loch in der Tapete, sagt sie, an der hinteren Wand.
Als die Tür ins Schloß fällt, beginnt das Warten. Ich lausche. Ich höre in der Wohnung nebenan die Nachrichten im Fernsehen. Wie in einem Grab liege ich, wie unter der Erde, ich drehe mich um, erkunde meine schwarze Insel auf allen Vieren, finde das Loch in der Tapete und blicke von oben in das schweigsame Zimmer hinab, das von Zeit zu Zeit durch irregeleitete Scheinwerfer erhellt wird. Ich lege mich hin und warte. Im Morgengrauen höre ich, wie meine Freundin heimkommt, sie spricht nicht, sie gurrt, daran erkenne ich, daß der Mann bei ihr sein muß, ihn höre ich nicht. Ich krieche nach hinten und schaue durch das Loch, genau mir gegenüber ist das Bett, meine Freundin setzt sich aufs Bett, der Mann bleibt stehen und sieht sie an. Er steht im Zimmer wie eine Lanze, dünn und hoch. Sein Gesicht kann ich nicht sehen. Der Rock ist zu kurz für deine Beine, sagt er. Den hat meine Freundin mir geborgt, sagt sie. Keine gute Idee von deiner Freundin, sagt er. Wie alt bist du eigentlich, fragt er. Dreißig, sagt sie. Dreißig, wiederholt er, ein zu langes Leben für einen so kurzen Rock, sagt er und rückt sich einen weißen Plastikstuhl zurecht, so daß er jetzt, als er sich setzt, meine Freundin in Ruhe betrachten kann. Ich sehe ihn nur von hinten. Seine Stimme bricht manchmal weg, während er spricht, als sei sie schon morsch, aber die Art, wie er sich bewegt, läßt vermuten, daß er kein alter Mann ist. Möcht mal wissen, sagt er, ohne den Blick von ihr zu wenden, warum ich mit einem dreißigjährigen Stück Fleisch aufs Zimmer gegangen bin. Ich weiß warum, sagt meine Freundin und lächelt ihn an, sie steht auf und beginnt, sich auszuziehen. Sie zieht meinen Mantel aus und meine Schuhe und meinen Rock, läßt alles auf die Erde fallen, jetzt wird ihr flacher Hintern sichtbar, der bei jeder Bewegung zittert wie der Kopf einer Greisin, schließlich schält sie sich Aaus einem engen gestreiften Oberteil, und der Mann sagt, du stinkst, da lacht sie und setzt sich rittlings auf seinen Schoß, komm, sagt sie, komm, und küßt ihn, und er windet sich aus den Küssen, hält sie an der Gurgel auf Abstand, sieht ihr ins Gesicht und sagt mit morscher Stimme: Ein Dreckstück bist du, ein widerliches kleines Dreckstück, da gelingt es ihr, sich aus dem Griff loszumachen, sie fällt wieder über sein Gesicht her, saugt sich an ihm fest, das geht eine Zeitlang so, bis der Mann sie plötzlich von sich stößt und sie zu Boden fällt. Und als sie den Kopf eben heben will, springt er auf, reißt sich die Hose auf und dann sehe ich, wie er das Gesicht meiner Freundin vergoldet mit dem Strahl, der in hohem Bogen von ihm zu ihr sich ergießt wie aus einem Brunnen. Meine Freundin verharrt auf dem Boden, vom Regen erblindet, bis es vorbei ist. Der Mann schließt seine Hose, dann geht er aus dem Bild und ich höre, wie die Tür ins Schloß fällt. Ich krieche aus meinem Kämmerchen hervor und steige hinab. Meine Freundin hockt noch immer auf dem Boden, mit einem Lächeln wie eine Frucht inmitten ihrer Blätter, und als ich mich zu ihr kauere, öffnet sie die Augen, an den Wimpern noch den Tau der Frühe, und sagt zu mir: Das ist die Liebe. Ich wollte, daß du das siehst.
Das ist die Liebe?, frage ich.
Ja, sagt sie.
Bist du glücklich?, frage ich sie.
Sehr, sehr glücklich bin ich, sagt sie.
Und dann will sie aufstehen, aber weil ihr die Beine noch steif sind vom langen Knien, knicken sie ihr ein, sie fällt beinahe hin, im letzten Moment hält sie sich an der Kante des Tisches aufrecht.

Es vergeht eine Woche, in der meine Freundin versucht, sich Locken zu drehen. Die Locken halten nicht, ihre Haare sind zu weich. Meine Mutter hat immer gesagt, meine Haare hätten keinen Charakter, genauso wie ich, sagt meine Freundin. Er kommt wieder, wirst sehen, sage ich zu meiner Freundin. Da fängt sie, das steinerne Gesicht von Lockenwicklern umrahmt, zu weinen an.

Als er am nächsten Abend klingelt, bin ich allein zu Haus. IAch öffne die Tür, dünn und hoch steht er davor, jetzt kann ich sein Gesicht sehen, es ist gefleckt wie das Gesicht eines zu früh geborenen Säuglings, mit morscher Stimme grüßt er mich. Meine Freundin ist nicht da, sage ich, aber du kannst gern hereinkommen und auf sie warten. Ja, danke, sagt er, danke, und ich sehe, wie ein schiffbrüchiges Lächeln sich auf seine schmalen Lippen rettet, danke. Der Beginn einer Robinsonade, denke ich, und trete beiseite, damit er eintreten kann. Ich schließe die Tür hinter ihm und gehe voraus. Setz dich, sage ich und lege die Hand auf die Lehne des weißen Plastiksessels. Diese Geste ruht, wie die Hand auf der Lehne, auf meiner Kenntnis der Vorlieben des Mannes. Der Mann kommt zögernd näher, daran erkenne ich, daß er sich erinnert. Ich wechsle die Seite, um seiner Erinnerung Raum zu geben, und setze mich aufs Bett, als wisse ich nicht, was ich weiß, ein Bein über das andere geschlagen, die Oberschenkel bedeckt von meinem kurzen Rock.
Ich habe nicht gewußt, daß hier noch jemand wohnt, sagt der Mann, während sein Blick auf meinen Rock fällt.
Meine Freundin ist sehr großzügig, sage ich.
Ja, das ist sie, sagt der Mann, und seine Stimme bricht weg.
Wir sind wie Schwestern.
Ja, sagt er und sieht mich an bis auf den Grund meiner Augen, aber er kann und kann nicht erkennen, was ich verschweige. Nicht nur seine Stimme, auch sein Blick ist morsch, sehe ich, und dann sehe ich, wie er vom Stuhl hinunter rutscht und vor mir auf die Knie fällt.
Was soll denn das?, frage ich. Er gibt mir keine Antwort, sieht mich nur an und schüttelt den Kopf.
Was soll das?, frage ich wieder. Das sei das einzige, wonach er jetzt ein Bedürfnis verspüre, wenn er mich ansähe: das Bedürfnis, vor mir auf die Knie zu fallen, antwortet er, und verharrt schweigend auf dem Boden.
Ich stehe auf und versuche, ihn am Ellenbogen wieder hinaufziehen. Es gelingt mir nicht. Wie stark du bist, sagt er, noch immer auf dem Boden knieend.
Steh doch auf, sage ich, bitte.
Ist es dein Wunsch, daß ich aufstehe?
Ja.
Gut, sagt er, und setzt sich wieder auf den Stuhl.
Auf dich habe ich gewartet, sagt er.
Ich denke, du willst meine Freundin besuchen, sage ich.
Ach, sagt er, wieder mit dem schiffbrüchigen Lächeln auf den Lippen, und rutscht ein zweites Mal vom Stuhl.
Jetzt ist es genug, sage ich.
Er schüttelt den Kopf, als wisse er es besser, rafft sich aber schließlich zusammen, als er sieht, daß ich mißbillige, was er tut, und setzt sich in Demut wieder auf den Stuhl. Demütig sagt er: Du wirst mich lieben. Du weißt es noch nicht, aber du wirst mich lieben.
Warum sollte ich?, sage ich.
Weil ich alles tun würde für dich.
Würdest du auch meine Freundin lieben, wenn ich es will?
Ja, das würde ich, sagt er, und ein Schluchzen galoppiert durch seinen Körper. Da dreht sich der Schlüssel im Schloß, ich deute auf die Tür, und der Körper des Mannes steht wirklich auf, gebeugt unter der Last der Folgsamkeit, um meiner Freundin entgegen zu gehen, aber den Blick hat er noch in mich verhakt, bis die Tür ins Schloß fällt, erst dann wendet er sich zu ihr um, und da sehe ich zum ersten Mal, daß sich die steinerne Weiße ihres Gesichts erwärmt. Guten Abend, sagt der Mann, den Körper gekrümmt wie ein welkes Blatt, und reicht ihr beide Hände hin. Guten Abend, sagt meine Freundin, Haare auf dem Kopf, aus denen die Locken längst gewichen sind, die Jacke kurz und abgegriffen, die Hosen auf halber Höhe, wie von Werkzeug beschwert, und atmet so tief, daß man es sehen kann. Sie nimmt seine Hände, die einen wächsernen Glanz haben, und legt sie für einen Augenblick um ihre Taille.

Sowas ist mir noch nie passiert, sagt sie, nachdem der Mann gegangen ist.
Ich liege im Bett, sie unten, auf ihrem Lager aus Decken.
Was?, frage ich.
Daß einer zu Besuch gekommen ist, um zu reden.

Es tritt Stille ein, hin und wieder erhellt durch einen verirrten Scheinwerfer.
Es ist, weil du bei mir bist.
Was?
Daß in Erfüllung geht, was ich mir wünsche.