von Moritz Rinke

Das Wichtigste an einer Insel ist das Wasser drumherum

Das Wichtigste an einer Insel ist das Wasser drumherum - wirklich sehr schön gesagt, aber für mich ist eigentlich das Wichtigste an einer Insel die Insel, also, dass da eben trotz des ganzen Wassers plötzlich eine Insel ist. Nordsee zum Beispiel ist ja ganz schön, aber Sylt ist wirklich besser, und ich kann auch sagen ,warum: Sylt hat mir das Leben gerettet! 1973, ich war sechs und gerade mit einem kleinen Sportflugzeug auf dem Weg nach Schweden, wo mir mein Vater Elche zeigen wollte und den Fjord, wo er meine Mutter kennen lernte, und wo ich angeblich sehr spontan entstanden sein soll. Horst, der Hobby-Pilot, der fünfzehn Jahre später kurz vor Sardinien ins Meer stürzte, hatte die Orientierung verloren; Orkanböen warfen das kleine Flugzeug hin und her, ich sah bereits riesige Wellen unter mir, und kein Mensch hatte uns mehr auf dem Radar. Der Rest war zufällige Landung irgendwo am Westellenbogen. Wir waren gerettet. Horst verlor vorübergehend seine Lizenz, mein Vater zeigte mir statt Elchen Strandkörbe, und dass ich den Fjord nicht mehr sehen konnte, an dem ich erfunden wurde, war auch nicht so schlimm, denn was bitte hätte das alles genützt, ohne Sylt?!

Also: Auf Sylt wurde ich im Grunde noch mal erfunden, und wenn es einen Flecken Erde auf der Welt gibt, den ich küssen würde, dann ist es nicht das gelobte Land, nicht die Toscana oder Copacabana, sondern der Westellenbogen. So!

Dass es also inmitten der feindlichen Wasserwüste plötzlich diesen Bogen mit Land gab, machte für mich Inseln zu Wundern. Überall Wasser, aber plötzlich diese aus dem diffusen, wilden Blau aufsteigende Verheißung, so als hebe die alte Dame Erde ein Tablett in die Höhe.
Ja, ein Tablett mit einer Verheißung!

Vielleicht hat es mit dieser glücklichen Sylt-Landung zu tun, aber alle meine Stücke habe ich entweder auf Inseln zu Ende geschrieben oder gleich auf einer Insel spielen lassen, denn welcher Ort eignet sich besser, die Welt in einem etwas kleineren Maßstab nachzuzeichnen oder neu zu planen?

In "Republik Vineta" wird eine leere, unbewohnte Insel im Bottnischen Meerbusen - die aussieht wie eine Mischung aus Schottland, der Bretagne und Italien (gilt übrigens exakt für Sylt!) -, von einer Delta AG aufgekauft und zur Bebauung an einen Planungsstab aus Spitzenarchitekten, Bürgermeistern, Unternehmensberatern, Ingenieuren und Philosophen übergeben. Sie sollen nun diese Insel, Arbeitstitel "Republik Vineta", zu einem Ort gestalten, in dem sich all das vereint, was Menschen für die Zukunft zum Leben brauchen.

Und falls, so der Plan, es wirklich keine Gegen-Entwürfe, Utopien oder pathetischen Menschheits-Ideen mehr gebe, dann gibt es in der Republik Vineta wenigstens noch einen "Themenpark der untergegangenen Träume": Lenin, ein Geschenk der Stadt Moskau, ist bereits direkt aus seinem Mausoleum auf einem Schiff in Richtung Bottnischen Meerbusen unterwegs; eine Guillotine aus der Französischen Revolution auch, dazu noch eine sowjetische Rakete aus Kuba, im Kalten Krieg war sie gerichtet aufs Weiße Haus. Außerdem soll auf der Insel eine Welt-Akademie entstehen, in der Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller aus aller Welt ein Jahr leben dürfen, um in Ruhe endlich mal darüber nachzudenken, wie wir denn in Zukunft eigentlich weiterleben könnten ... Ich meine also: Wenn man an Inseln denkt, oder im Geiste Inseln plant, dann denkt man ans Ganze. Inseln sind genau der richtige Ort, um sehr große Pläne zu machen ohne dabei den Überblick zu verlieren, und für Schriftsteller ist das geradezu ideal.

Es ist schwer zu erklären, aber die Arbeit, das Schreiben auf einer Insel hat irgendwie etwas Befreiendes und zugleich Behütendes. Ich sitze wie auf einem kleinen Planeten und habe viel mehr Mut, zu wissen und zu behaupten, wie das Leben auf dem großen Planeten ist. Wenn ich irgendwo auf der Welt in der Metropole / Downtown mitten im hippesten Zentrum säße, mir würde nichts einfallen, mir würde wahrscheinlich die Globalisierung um die Ohren fliegen, und ich wüsste nicht, wo anfangen.

Natürlich brauchen Autoren die Weite, aber ich denke, sie brauchen auch die Begrenzung. Ich finde es herrlich, im Süden aufzuwachen und zu arbeiten, im Norden Mittag zu essen und im Westen zu baden, und wenn ich Lust habe, sogar noch in den Osten zu fahren und in zwanzig Minuten wieder im Süden zu sein; also, mein Selbstbewusstsein, mein Mut, ganz einfach gesagt, das Bewusstsein meiner eigenen Größe wächst dadurch, ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber wenn ich mich zum Beispiel zum siebzehnten Mal in Harlem oder Manhattan verfahren hätte, dass wär' Sense, und ich käm' mir vor wie eine Ameise.

Auf Sylt kommt neben der Weite und Begrenzung für das Schreiben sogar noch etwas Wunderschönes dazu: Auf der einen Seite die Bewegung, das Brandende, das Meer; auf der anderen Seite die Ruhe, das still Daliegende, das Watt. Man muss ja kein Literaturwissenschaftler sein, um zu bemerken, dass diese Insel geradezu ein Kompositionsprinzip von Texten sein könnte! Ja, Sylt ist das Kompositionsprinzip von Literatur von vornherein immanent! Na, und somit ist das doch alles die ideale Mischung aus also Weite und Welt-Entwurf, Begrenzung, Endlichkeit und Übersicht und Bewegung und Sturm und Ruhe und Stille.

Mein Gott, hätte das doch auch alles der Horst gewusst, als er mit uns auf dem Westellenbogen landete!