von Thomas Hettche

One hundred aluminium pieces

“Hi! Ich bin Asia.”

„Thomas“.

Wir müssen uns beeilen, denke ich, gleich wird es dunkel. Marfa, Texas, drei Stunden südöstlich von El Paso. Der Künstler Donald Judd lebte hier. Wir gehen das kleine Stück hinüber zu den beiden ehemaligen Artillerieschuppen, die mit ihren Kuppeln aus Wellblech an Flugzeughangars erinnern, und in denen seine one hundred aluminium pieces zu besichtigen sind.

Asia holt den Schlüssel hervor. Als müsse sie sich der Landschaft versichern, die an der verwitterten Backsteinwand endet, aus der der Wind längst den Mörtel herausgeleckt hat, sieht sich sich noch einmal über die Schulter um, bevor sie aufschließt. Dann schlüpfen wir aus der offenen Weite in den Raum hinein, und als die Tür ins Schloß fällt, überrascht mich die plötzlich wartende, atemlose Stille.

Eine Betondecke mit zwei Säulenreihen im quadratischen Raster gliedert den Raum in drei Schiffe einer Basilika. Das wenige dünne Winterlicht, das noch durch die großen, über die ganzen Längsseiten gehenden Fenster hereinkommt, scheint sich in den Aluminiumwürfeln zu akkumulieren, die in drei Reihen auf dem glatten Betonboden stehen. Sie glimmen. Sofort saugt sich der Blick in die Flucht der schimmernden Kuben im Hauptschiff, in den beiden Seitenschiffen stehen sie dicht am Fenster, beinahe schon draußen im Sand und im Gestrüpp der Prärie. Zögernd setze ich Schritt für Schritt in den Raum hinein.

„Es gibt kein elektrisches Licht“, sagt Asia tonlos. Sie ist an der Tür stehengeblieben und überlässt mir den Raum. „Judd hat die Leitungen entfernen lassen.“

Ich nicke.

Keiner der hüfthohen Würfel – alle aus demselben polierten Aluminium und alle mit identischen Ausmaßen – gleicht dem anderen. Keiner, denke ich zuerst, ist komplett. Und doch wäre es falsch zu behaupten, ihnen fehle etwas. Langsam gehe ich zwischen ihnen hindurch. Es kommt mir so vor, als bemühe sich jeder von ihnen mit seinem eigenen Spiel von Schatten und Spiegelung, in den mathematischen Exerzitien der Perspektive, die ihr ganz individuelles Ausdrucksmittel sind, um so etwas wie Individualität. Als ich das denke, bleibe ich stehen. Es ist, als wären die Hundert ebenso Exemplare einer Art, wie ich selbst eines bin. So augen- und gesichtslos sind sie, so stumm und bewegungslos, erinnert doch alleine ihre Vielgestalt an Individualität. Es ist etwas Menschliches an ihnen, denke ich, jeder der one hundred aluminium pieces aus gebürstetem Aluminium so besonders wie die Gedanken oder ein Gefühl.

Donald Judd, der die Seitenwände und Abdeckungen der Kuben auf den ersten Blick weggelassen und versetzt zu haben scheint, um in immer neuen Varianten von Spiegelungen und Schattenwirkungen lediglich eine konzeptionelle Folge durchzuspielen, ist dabei etwas ganz anderes gelungen. Ich schaue hinaus in die texanische Prärie und sehe, wie das trockene Gras leuchtet. Nicht weniger als Leben, denke ich. Ein fast totes, fast unbelebtes Leben. In Formen, so gleichartig und hart wie die Kakteen und das Gras, unbewegt und endlos mit sich selbst beschäftigt wie alles autistische, einsame Leben hier unter brennender Sonne.

„Als würden sie leben“, sage ich, ohne Asia anzusehen.

„Männliche Kunst, sagt die New York Times.“

Sie ist mir nachgekommen. Die dünnen Sohlen ihrer Converse quietschen bei jedem Schritt. Doch ich habe keine Zeit, mich nach ihr umzusehen oder ihr zu antworten, folge stattdessen immer noch langsam der mittleren Reihe der Kuben. Diese Kunst ist in Stärke verliebt, schon wahr. Wie alles, was es unter diesem Himmel aushält. Wieder bleibe ich mitten im Hauptschiff der Halle stehen. Und bin in diesem Moment davon überzeugt, dass es Judds one hundred aluminium pieces tatsächlich gelingt, ganz in sich versenkt dem Tod, den diese Landschaft in sich trägt, zu trotzen.

Ich sehe mich nach Asia um. Längst ist sie am Ende der Halle angekommen und lehnt dort, wo noch ein Rest Sonnenrot hereinkommt, in der Laibung eines der kleinteiligen Industriefenster und starrt hinaus. Erst, als ich dicht bei ihr stehe, wendet sie sich mir zu.

„Fertig?“

Ich schüttle lächelnd den Kopf. „Fertig? Ich weiß nicht. Für heute vielleicht.“

Ihre Gesichtshaut ist fest über die Knochen gespannt und der Mund ein Einschnitt darin, fast farblos und wie von der Sonne oder dem Wind zermürbt. Die Augen so hellblau, dass ich die Pupillen in der Dämmerung bereits nicht mehr sehe.

„Wie alt sind sie, Tom?“ fragt sie, während ich sie betrachte, und ich fühle mich ertappt. „ Ich darf sie doch Tom nennen?“

„Natürlich.“ Ich nicke. „Achtunddreißig, warum?“

Sie lacht.

„Warum lachen Sie? Zu alt?“

Sie schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht.“

Wir schweigen einen Moment.

„Sie haben einen seltsamen Namen,“ sage ich dann.

„Asia?“ fragt sie, als müsse sie überlegen, welchen ich meine.

„Ja.“

„Mein Vater war in Vietnam.“

„Das scheint mir eher kein Grund zu sein.“

„Ich weiß nicht“, sagt sie wieder. Dann, nach einer Pause: „Wollen Sie den zweiten Raum auch noch sehen?

„Heute nicht mehr.“

„Wollen wir dann gehen?“

Ich nicke. Schweigend beeilen wir uns nun, quer durch den fast dunklen Raum zurück zum Ausgang zu kommen. Ich ertappe mich bei dem Bemühen, die Boxen dabei nicht anzusehen, wie man auch Passanten im Vorübergehen nicht mustert.

Und dann, als sie den Schlüssel schon wieder in der Hand hat, bemerke ich plötzlich den an der Stirnwand des Hangars mit Buchstabenschablonen über der Tür angebrachten Satz. DEN KOPF NENUTZEN IST BESSER ALS IHN VERLIEREN, lese ich und bleibe überrascht stehen. Die Buchstaben schimmern rot im Dämmer des Raums, der die gekalkten Wände längst zu Elfenbein hat vergilben lassen. Überrascht davon, nicht übersetzen zu müssen, was ich lese, dauert es einen Moment, bis ich überhaupt registriere, dass der Satz dort auf deutsch steht, und das fühlt sich an wie der Boden, der unter einem weiterschaukelt, wenn man lange auf einem Schiff war und zum ersten Mal wieder an Land ist.

Langsam gehe ich noch näher an die Wand heran und lese den Satz laut vor: „Den Kopf benutzen ist besser, als ihn zu verlieren.“

Asia, schon an der Tür, dreht sich nach mir um und nickt.

„Wie kommt das denn hierher?“ frage ich.

„POW´s“, sagt sie und kommt wieder zurück zu mir. Jeder ihrer Schritte ein quietschendes Geräusch auf dem glatten Betonboden. „Prisoners of war. Im Krieg gab es hier ein Lager für deutsche Kriegsgefangene.”

„Echt?“

„Ja.“

Mein Blick streift ein letztes Mal durch den Raum, den die Nacht nun völlig ausfüllt. Nur in Judds Aluminiumwürfeln sirrt noch ein letzter Rest Licht, gespeichert in den hundert unterschiedlichen Kuben, still, wie die Natur selbst. Und wie diese, denke ich, abwartend, zögernd, beobachtend vielleicht sogar.

„Hier drin waren sie?“

Ich bemerke, dass ich flüstere. Wir wenden dem schimmernden Metall den Rücken zu.

„Nein.“ sagt sie.

Als wir draußen stehen und sie den Hangar abschließt, ist der Himmel sehr klar und – außer einem hellen wässrigen Streifen am Horizont – von einem gleichmäßigen tiefen Schwarz, in dem die Sterne gerade aufgehen. Und obwohl Asia sehr dicht bei mit steht, ist ihr Lächeln kaum zu sehen.