Judith Kuckart

Die kleine Tante

1.
Kurz bevor er die neue Stelle als Vertriebsleiter eines Verlags für juristische Literatur antrat, fuhr er zu einer Weiterbildung nach Bad Münstereifel. Er hatte seine eigenen Erinnerungen an die Eifel. Dort hatte er an einem späten Nachmittag in einen Wald aus Licht und Bäumen hineingesehen und gesagt: Jetzt werde ich glücklich sein. Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Jetzt war er fast vierzig und auf dem Kalender stand, es sei Samstag, 3. November 2007. Tags zuvor hatte ihn die Nachricht erreicht, dass seine Tante, die ein Jahr jünger war als er, sich das Leben genommen habe. Sie hatte als ungelernte Arbeiterin in der Schirmfabrik am Fließband gestanden.
Eigentlich war sie immer eine fröhliche Person gewesen.

Zum Nachtessen gab es roten Tee und Schnittchen mit Gurkengarnitur, was zur Tagungsstätte Bad Münstereifel passte: Eine Jugendherberge für Erwachsene mit dem Geruch nach evangelischem Kirchengemeindesaal, wenn er die Kleiderschranktür öffnete. Das Fenster in seinem Zimmer ließ er für die Nacht offen und warf die braune Wolldecke aus dem Kleiderschrank über das Plumeau. Sie roch, wie Wolldecken eben riechen. Für ihn nach Eifel. Er legte sich ins Bett.  Die Eifel gehörte in seine Kindheit, war das dunkle Land, das eine Bahnschranke von einem noch dunkleren Land jenseits dieser Bahnschranke trennte. Er drehte sich zur Wand, und so fiel im auch der Name des Ortes wieder ein. Kalterherberg. Irgendjemand aus der Verwandtschaft hatte eine Autowerkstatt in Kalterherberg gehabt. Vom Wohnzimmerfenster des selbst gebauten Bungalows aus hatte er die Hebebühnen in der Garage und die rostigen Hinterteile von zweitürigen Autos sehen können, während er und die Großmutter auf der Durchreise zum Bauernhof des Alten dort Halt machten. Der Alte war der Vater der Großmutter und der Ziehvater der Tante. Bevor sie zu ihm kamen, wurden sie von den Kalterherbergern - die nie zum Alten fuhren - mit fettem Kuchen abgefüttert. Geredet wurde kaum. Ja, in der sommerlichen Langeweile damals machte sein Leben nicht den Anschein, als würde es einmal groß ausfallen.
In seinem Bett in der Tagungsstätte Bad Münstereifel drehte er das Gesicht weg von der Wand und zurück ins Zimmer. Jemand auf dem Gang sagte ganz deutlich: Was man bis sechsundzwanzig nicht geschafft hat, das schafft man nie mehr. Er stand auf. Die braune Wolldecke rutschte zu Boden, und leise öffnete er die Zimmertür. Der Gang war leer. Das Fenster hinter ihm schlug im Luftzug zu. Er schloss die Tür und ging zurück ins Bett.
Zwei Flecken weiter als Kalterherberg hatte der Bauernhof gestanden, wo der Alte und die Tante wohnten, ein hufeisenförmiges Fachwerkhaus um einen hölzernen, einsamen Mann und ein strichdünnes Mädchen ohne Eltern herum gebaut. Der Alte wartete am Rand des Gemüsegartens, hielt die Hand als Schirm über die Augen, um wie jedes Jahr über den Besuch hinweg und Richtung Belgien zu schauen. Sie packten die Koffer aus, sie wohnten wie immer unter dem Dach neben dem Zimmer der Tante, mit der er im letzten Jahr noch in einem Bett geschlafen hatte, weil sie da noch Kinder waren, die Tante und er. Jetzt schliefen sie getrennt, aber wie jedes Jahr streichelte er im Hof die Hühner, ritt auf der ältesten Kuh und wischte sich morgens auf dem Plumpsklo den Hintern mit Zeitungspapier. Schön war’s. Der Sommer hatte sich über ihn gelegt. Es würde sein letztes Jahr auf dem Hof des Alten sein. Er war vierzehn. Jenseits der Bahnschranke lag Belgien, wo unter einem dunkleren Himmel als diesseits der Schranke schwere Pferde mit kaltem Blut Baumstämme an Ketten vom Waldinnern zum Waldrand zogen. Nur dieses eine Mal hatte er sich in das Land getraut, in Begleitung der Tante. Das dünne Mädchen, dünn wie ein eingedrehter Schirm, den man überall vergisst, war nicht richtig seine Tante, sondern die Cousine seiner Mutter. Ihre Mutter und seine Großmutter waren Schwestern, zwischen denen zwanzig Jahre Altersunterschied lagen. Weil sie so klein und keine echte Tante war, nannte er sie die kleine Tante. Sie trug eine Brille, und das Gras auf dem schmalen Weg stand ihnen bis zu den Knien. Bei der Schranke blieben sie stehen. Zwischen den Holzbohlen der eingleisigen Strecke wuchs, was wollte. Kein Zug kam. Es kam schon lange kein Zug mehr. Die Sonne schaute ihnen tief in die Augen, und sie schauten zurück. Auf dem Weg zwischen Sonne und ihnen lag Belgien. Die kleine Tante packte zwei Bonbons aus, eins für sich, eins für ihn, und sie liefen mit Proviant im Mund über die Grenze. Als er den Schritt über den Bahnstrang machte, war das Gefühl da gewesen, scharf und heiß. Es hob ihn in die Luft und ließ ihn gleichzeitig fallen. Es war wie Kettenkarussell fahren ohne Kettenkarussell. Alles stimmte. Das war Belgien. Besser wusste er es nicht zu sagen. Die kleine Tante lief neben ihm her. In der Lücke zwischen ihnen, durch die nicht einmal ein Vogel gepasst hätte, war noch jemand mit dabei. Ein gläserner Gast. Das Glück. So war es, und dann war es schon vorbei gewesen.
Jetzt war die Dunkelheit vor seinem Fenster in Bad Münstereifel nicht mehr stumm. Es regnete. Bei Regen wurde er immer so melancholisch, als zwinge ihn die Stimme des Regens, rasch etwas Drittes zu tun, während Glücklichseinwollen und Traurigseinmüssen bereits über ihn herfielen. Am Morgen blieb er bis zur letzten Sekunde liegen, betrachtete die braune Wolldecke, bis sie vor seinen Augen fusselig wurde, und genoss den geschütztesten Moment des Tages. Es war fast ein frommes Gefühl, das noch unter der Dusche anhielt und erst im Frühstücksraum zwischen den fitten Kollegen, die auf ihre Frühstückseier eindroschen, wieder verschwand. Zum Bahnhof ging er früher als die anderen und allein. Auf Gleis 1 Richtung Köln traf er einen Besoffenen, der den Fahrplan auswendig wusste. Es war Sonntag. Am kommenden Freitag würde die Beerdigung der kleinen Tante sein. In seiner Vorstellung hatte sie die Brille abgenommen und in den Schotter zwischen den Schienen gelegt, bevor sie auf einer Nebenstrecke bei Konzen oder Kalterherberg ihrem Leben ein Ende gemacht hatte. Ihre Freundin aus der Schirmfabrik hatte auch den Teil der Familie „da oben in der Stadt“ benachrichtigt  und gesagt, Gertrud sei aber immer ein fröhliches Mädchen gewesen, wenigstens bis zu ihrem 37. Geburtstag, und es sei einfach schwer zu sagen, woran einer letzten Endes sterbe.

Er nahm den Zug, der alle Stunde nach Köln fuhr, und in Euskirchen stieg eine Gruppe geistig Behinderter zu. Der Anführer hieß Hans. Hans, der mit seiner verknautschen Physiognomie die Gesichter von Politikern nachmachte. Ein Mädchen von fast fünfzig Jahren im rosa Twinset saß ihm gegenüber am Fenster, lächelte in die Landschaft hinein und verzog das Gesicht zu einem Weinen, als der Zug an einem Autofriedhof vorbei fuhr. In Köln verabschiedete sich Hans mit dem verknautschten Gesicht von ihm persönlich mit einer Verbeugung, die Elefanten im Zirkus machen. Hans, sagte er dabei, angenehm. Markus, sagte Markus, verbeugte sich ebenfalls und lächelte. Er stieg als letzter aus. Er summte.

2.
Sie hatte schon als Kind gefunden, dass Markus ein komischer Kerl sei. Hätte sie damals das Wort melancholisch gekannt, sie hätte es ihm auf den Kopf zugesagt.
Es war der Tag nach der Beerdigung des Alten, dass sie Markus belauschte, wie er mit seinem Freund aus Aachen, der immer schon aalglatt, gewandt und kalt wie eine Hundeschnauze gewesen war, sich über sie lustig machte und ihm zuflüsterte, wie er sie heimlich nannte: die kleine Tante. Markus stand beim alten Telefon im Flur und war wohl sicher, dass niemand ihn hörte. Sie stand hinter der Küchentür über die Spüle gebeugt und drückte länger als nötig ihre Handwäsche in der Lauge aus. Die kleine Tante? Sie schaute in den Spiegel über der Spüle. Ein Gesicht wie ein Winterapfel. Sie würde ab jetzt allein auf dem Hof leben. Sie war vierunddreißig, Markus ein Jahr älter. Daran hatte sich auch in den letzten Jahren nichts geändert. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt, bis er vierzehn und sie dreizehn gewesen war. In jenem letzten Sommer war sie kurz vor seiner Abreise zu ihm rüber ins andere Zimmer geschlichen und mit unter sein dickes Plumeau gekrochen. Sie hatte versucht, ihn zu verführen, ohne genau zu wissen, was sie da tat. Du riechst aber komisch, hatte er zu ihr gesagt, du riechst wie eine nasse Wolldecke, und sie hatte von ihm abgelassen.
Ihre BHs drückte sie noch einmal im Handtuch aus, das neben der Spüle hing. Markus hatte aufgehört zu telefonieren. Draußen schien die Sonne auf den Gemüsegarten, und den Wäscheständer klappte sie nicht nur deswegen direkt vor Markus´ Gastzimmer im umgebauten Stall auf. Die kleine Tante hatte eine große Brust. Tags drauf fuhr er.

Mit sechzehn war Gertrud weg vom Alten und nach Aachen gegangen, in die Lehre. Als sie Kalterherberg verließ, stand in Berlin noch die Mauer, und sie sah aus, als hätte sie soeben erst ihre Zöpfe abgeschnitten. Wie borstige Pinsel standen die kinnlangen Haare vom Gesicht ab. Sie machte ihre Lehre in einem Geschäft für Süßigkeiten gleich beim Dom. Der Laden war lang wie ein Handtuch, braun wie eine kostbare Holztruhe und dunkel wie ein Flur. Das Geschäft führten Pius Kindermann und Emma Dahlmann, und es dauerte keine Woche, da nannte sie die unverheiratete Emma beim Vornamen, und zu Pius Kindermann, der keine Kinder hatte, sagte sie „Onkel“, obwohl er nicht älter als Emma war, aber viel größer. Pius war 1,87 und machte kleine, feine, stolze Hühnerschritte mit durchgedrückten Knien, wenn er sein Geschäft für einen Einkauf anderswo verließ.
Am 16. August 1985 stieg Gertrud mit Plumeau im Gepäck in den Bus nach Kalterherberg und dort in den Zug nach Aachen. Nur einmal fuhr der Alte ebenfalls nach Aachen, um nachzuschauen, wie es um Gertrud stehe. Für die Reise hatte er sich im Mittagslicht beim Fenster die Haare aus Nase und Ohren entfernt und ein neues Hemd aus der Verpackung gerissen. Gertrud ging es gut. Sie schien fröhlich zu sein. Der Alte war beruhigt nach Kalterherberg zurückgefahren und hatte gleich beim Heimkommen das neue Hemd wieder ausgezogen.

Pius Kindermann wohnte wie Emma Dahlmann im ersten Stock über dem Süßigkeitsgeschäft, aber jeder in seiner eigenen Wohnung. Die Zimmerpflanzen auf dem Blumenhocker zwischen ihren Etagentüren gossen sie abwechselnd. Emma hatte genaue Vorstellungen davon, wie man ohne Mann glücklich wird, und Gertrud lernte von ihr, dass man nicht nur von Spinat, Milch und Bananen, sondern auch von Büchern, Musik und tröstlichen Wunschvorstellungen von der Welt leben kann. Gertrud, das Lehrmädchen, war im Zimmer hinter dem Geschäft untergebracht. Dort stand ein grünes Sofa, das breit genug zum Schlafen war, und zwischen den Brokatkissen saß eine aufgetakelte Puppe von der Kirmes, so eine Schießbudenfigur, die Kindermann einmal gewonnen hatte, als er das falsche Los zog. Sie war blond und hässlich, aber hergeben wollte er sie auch nicht.
Pius und Emma waren kein Paar, aber gehörten zusammen. Sie brachten Gertrud an einem Sonntagnachmittag auf dem grünen Sofa nebeneinander sitzend ein zweites Mal zur Welt, indem sich ihre schönen Gedanken vereinigten, und Emma Dahlmann dabei einen Moment lang wie Hannah  Arendt und Pius Kindermann wie ein altes, untröstliches Kind aussah. Für den Akt hatten sie die Schießbudenfigur beiseite geräumt und Gertrud zwischen sich gesetzt. Pius Kindermann und Emma Dahlmann waren das Traumelternpaar für sie. Pius war der Mann, der leider nicht ihr Vater geworden war. Ihren richtigen Vater kannte Gertrud nicht, und der Alte, der eigentlich der Vater von Gertruds Mutter war, welche das Kind am ersten Schultag Tag mit Tüte im Arm auf dem Hof abgegeben hatte, war schon immer zu alt dafür gewesen, ihr ein richtiger Vater zu sein. Er sagte, was sie tun und lassen sollte, aber nicht, warum etwas richtig oder falsch oder die Welt außerhalb des Dorfes bisweilen so aus den Angeln war.

Es war ihr drittes Jahr im Zimmer hinter dem Geschäft am Dom, als Gertrud aus der Zeitung eine Meldung ausschnitt. Seit Anfang Dezember galt eine aus Belgien stammende Frau nach einer Wanderung als vermisst. Sie hatte eine Tour gemacht, zusammen mit ihrem Hund. Der Hund kam wieder, die Frau nicht. Zwei Tage später wurde das Auto der Vermissten gefunden. Man leitete die Suchaktion ein. Man hoffte, dass der Hund zu der Frau finden würde. Fehlanzeige. Stattdessen wurden ein Rucksack und einzelne Kleidungsstücke entdeckt. Bauern fanden am Ende die tote Frau, völlig nackt, in der Nähe von Kalterherberg.
Die ist wohl erfroren, sagte Emma Dahlmann, als Gertrud ihr den Zeitungsausschnitt zeigte. Alleinsein schadet der Gesundheit, sagte Pius Kindermann und erinnerte Emma daran, ihre Medizin zu nehmen.
Wenige Monate später starb sie.
War ja klar, nickte Pius Kindermann, als er nach ihrer Beerdigung das Schild „Geschäftaufgabe“ im Schaufenster aushängte und auf Socken mit durchgedrückten Knien zwischen den Süßigkeiten herum stakste. War ja klar, dass sie früher sterben würde, war ja auch viel älter als ich.
Gertrud stand mit seinen Schuhen in der Hand dabei.
Ja, wie viel denn?
Vier Wochen, sagte Pius und riss einer Tafel Schokolade das Papier vom Leib.
Da, sagte er, belgische Schokolade.

An dem Tag, an dem nur noch der leere Verkaufstisch in dem langen, bis unter die Decke dunkel getäfelten Geschäftraum stand und sie zurück nach Kalterherberg ging, öffnete Gertrud die Tür zu Pius’ Wohnzimmer, ohne anzuklopfen, in der Annahme, er sei nicht da. Aber da saß er, im Hintergrund stand noch der Weihnachtsbaum. Der Bildausschnitt war so breit wie der Türspalt, in dem sie innehielt. Sie schaute und dachte: Das habe ich nicht gesehen! Aber wenige Herzschläge lang hatte sie den wahren Kindermann gesehen, - oder das, was sie in Wahrheit immer von ihm gedacht hatte. Er saß auf seinem Sofa mit übereinandergeschlagenen Beinen und sehr aufrecht, in einer weißen Rüschenbluse, die bis zum Brustbein offen stand. Es war Emmas Bluse. Quer über der Brust spannte sich straff ein Lederriemen, von einer Handtasche, die er sich umgehängt hatte. Er hatte eine seiner alten Platten aufgelegt „Wenn ich mir was wünschen dürfte“, sang Marlene Dietrich. Pius summte mit. Nicht die geöffnete Bluse und auch nicht der Taschenriemen über der Männerbrust, die durch den Einschnitt zweigeteilt und gewölbt aussah wie bei einer Frau, hatten ihr den Schreck eingejagt. Nicht seine Aufmachung war es, sondern sein Gesicht. Es war das Gesicht einer älteren Frau, die sich mit einer furchtbaren Erregung der Einsamkeit hingibt und dabei mit übereinandergeschlagenen Beinen Haltung wahrt, obwohl sie allein ist.
Kindermann brachte Gertrud eine Stunde später zum Bahnhof. Sie kehrte zurück zu dem Flecken nah bei Kalterherberg, aber mit einem Koffer mehr als vor vier Jahren. In dem neuen Koffer, der ein alter von Emma war, transportierte sie auch mehrere Tafeln Schokolade.
Etwas Tröstliches braucht der Mensch, wenn sein Zimmer mehr als vier dunkle Ecken hat, hatte Kindermann gesagt, als er die Tafeln in das Seitenfach des Koffers schob. 
Was für Ecken?
Aus denen sie dann kommen. Er hatte ein schwermütiges Profil, als er das sagte
Wer kommt?
Die Toten.
Ach die, sagte Gertrud, aber das ist doch jetzt peinlich. Wenn uns einer hört.

Gertrud bekam in Kalterherberg einen Job als ungelernte Arbeiterin in der Schirmfabrik. Sie fuhr jeden Morgen um fünf mit dem Bus hin und schlief in ihrem alten Bett. Im weiß lackierten Nachtschränkchen sammelte sie weiter Zeitungsartikel über Menschen, die nicht glücklich waren. Als das Nachtschränkchen voll war, sammelte sie die Berichte anderswo. Sie schnitt sie aus, strich sie glatt und arrangierte sie auf dem blanken Küchentisch, über den sie danach die Wachstuchdecke breitete. Die Jahre vergingen.
An ihrem 37. Geburtstag rief sie Markus an, weil er nicht angerufen hatte.
Damit du Gelegenheit hast, mir zu gratulieren, sagte sie frech in den Hörer, während ihr Herz klopfte. Sie hatte schon oft versucht, ihn anzurufen, vom alten Telefon im Flur aus, obwohl dieser Apparat Markus´ Spott über sie damals bis nach Aachen transportiert hatte. Die kleine Tante, die kleine Tante. Trotzdem hatte sie an manchen Abenden seine Nummer gewählt, aber niemals bis zum Ende. Weißt du noch, hatte sie regelmäßig zu fragen geübt, doch dabei mit dem Finger auf der vorletzten Ziffer innegehalten. Weißt du noch - war das die richtige Frage für einen, der täglich eine teure Krawatte trug?
Weißt du noch, dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück, Markus? fragte sie an ihrem 37. Geburtstag, nachdem sie das erste Mal seine Nummer bis zum Ende gewählt hatte.
Na, so viel Spaß hatte wir damals nun auch wieder nicht, antwortete er, und hörst du das auch, da ist eine Rückkopplung in der Leitung.

3.
Eine Gruppe geistig Behinderter stieg am Sonntag, dem 4. November 2007 aus dem Zug, in den Pius Kindermann einsteigen wollte. Der Zug kam aus Bad Münstereifel. Der Anführer der Gruppe hatte das zerknautschte Gesicht eines freundlichen Irren, in dem noch viele Irre mehr Platz haben. Er nahm eine Frau bei der Hand, die eben noch auf dem Bahnsteig umständlich einen roten Mantel über ihr rosa Twinset gezogen hatte. Als letzter stieg ein Mann Ende dreißig aus dem Regionalzug. Er summte etwas und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, das nicht Kindermann galt. Denn sie kannten sich nicht. Trotzdem standen sie plötzlich auf dem Bahnsteig einander Aug in Aug gegenüber, und der andere hatte aufgehört zu summen. Sie kamen nicht aneinander vorbei, obwohl genügend Platz war. Ging der eine nach rechts, ging der andere gleichzeitig nach links und beide versperrten beiden den Weg. So sahen die Irren, als sie sich umdrehten, zwei Fremde, die unfreiwillig voreinander herumtanzten, taktierten und auf der Stelle kämpften. Wieder vergingen die Jahre.