Gernot Wolfram

Die Begegnung mit dem Oktopus

Vor kurzem fand ich beim Aufräumen des fast schon leeren Hauses, in das sich mein Vater die letzten dreizehn Jahre seines Lebens zurückgezogen hatte, eine Schachtel wieder, in der einige alte Fotografien lagen, die er mit seiner Leica-Kamera aufgenommen hatte, Bilder von Türen und Vorhöfen auf Inseln, die für mich zu nicht mehr wiedererkennbaren Ländern gehörten, und ein Stoß Papiere mit handschriftlichen Reisenotizen. Mein Vater, der nie viel über die Reisen in seiner Jugendzeit erzählte, hatte immer gesagt, dass Reiseerzählungen wie Träume seien – sie seien nur interessant für den, der sie erlebt hat. Daher wusste ich nichts von diesen Notizen. Ich wunderte mich vielmehr, wie akribisch er diese Papiere gesammelt und geordnet hatte. Und mir fielen wieder, neben so vielen anderen Sonderbarkeiten, seine Abneigungssätze gegen das „Verspeisen von Meerestieren“ ein. Nie war bei uns zuhause Fisch oder Ähnliches auf den Tisch gekommen. Während ich in seinen Papieren las, dachte ich: Wie anders wäre vielleicht unser Verhältnis geworden, wäre ich in der Stunde bei ihm gewesen, als er mit seinem blauen Stift oben auf das rot linierte Papier schrieb:

Die Begegnung mit dem Oktopus

Der Oktopus hatte große dunkle Glubschaugen, die sich inmitten seines Körpers wie aus einem rieselnden Sandhügel erhoben. Diese Augen beobachteten alles, was um sie herum vorging, mit gierigem, nervösem Staunen. Und als ob das Tier das Kommende erahnte, hielt es den Blick auf die über das Gitter gebeugten Köpfe gerichtet. Die langen schweren Tentakeln des Tieres schwangen und kreisten in dem Bassin unruhig durcheinander und rührten das Wasser auf. Hin und wieder schlang sich eine der Tentakeln tastend durch die Zwischenräume des Gitters, das über dem Bassin lag und rutschte dann langsam ab, als seien die Gitterstäbe glitschig wie die Haut eines Fisches. Die Augen des Oktopus wirkten, als gehörten sie zu einem geheimnisvollen Gesicht, das irgendwohin verschwunden war und nur die Augen zurückgelassen hatte, verbunden mit der unförmigen, elastischen Masse eines undefinierbaren Körpers. Der Bruder des Hotelbesitzers schnalzte mit der Zunge. Durch allerlei Handzeichen gab er mir zu verstehen, was für ein Leckerbissen dieses Tier sei. Der Hotelbesitzer erklärte, dass man höllisch aufpassen müsse bei diesen Wesen – sie könnten selbst sehr sichere Behältnisse innerhalb kürzester Zeit überwinden und es gebe keinen Restaurantbesitzer auf der Insel, dem nicht schon mal ein Oktopus entwischt sei.

Das Bassin befand sich in der Nähe der Terrasse. Zweimal im Jahr brachte der Bruder aus der Stadt einen fangfrischen Oktopus mit. Ich hatte noch nie zuvor solch ein großes Exemplar gesehen. Als eine der Tentakeln wieder nach dem Gitter griff, versuchte ich sie zu berühren. Erst beim dritten Mal gelang es mir, für einen kurzen Moment die feuchte Spitze eines der Greifarme anzufassen. Es steckte in ihnen so viel Lebendigkeit wie in einer menschlichen Hand. Suchend und tastend ruderten die Arme mit ihren weißen zitternden Saugnäpfen in die Höhe und sanken gleich wieder in die Tiefe. Jeder dieser weißen Näpfe schien eigene, teleskopartige Augen zu besitzen, die nun verzweifelt nach Rettung Ausschau hielten. Die Enge des Bassins, gefüllt mit Meerwasser, war etwas vollkommen Ungewohntes für das Tier. Auf alle erdenklichen Arten und Weisen prüfte es die Veränderbarkeit der Wände und des Gitters und je klarer es sich darüber wurde, dass dieses Gefängnis keinen Millimeter nachgab, desto zögerlicher wurden seine Bewegungen. Der Rücken des Oktopus glich einer vorzeitlichen Landschaft: Mulden, Risse, wächserne Flecken, rotbraune Flächen mit sandgelben Punkten waren zu sehen und silberne Streifen auf einer körnigen, vom Wasser weich gespülten Haut, durch die ein sanftes Pulsieren ging, ein geheimnisvolles Atmen, wie in einer Blase eingeschlossen.

Die Vorfreude des Hotelbesitzers erfüllte das ganze Hotel. Die Kellner trugen Tische und Stühle zu dem kleinen Grundstück mit den großen Bäumen neben dem Hotel. Die Frau des Bruders, die Verwandten aus der Stadt und die Kinder des Bruders hielten sich in der Küche auf, schälten Gurken, Tomaten und Zwiebeln, rührten den Quark an, schnipselten Knoblauchzehen und hackten Lauch klein, so dass auf dem großen Holzschneidebrett ein wässrig grüner Film erschien. In der Mitte des Grundstücks, das von einem Zaun umschlossen war, befand sich ein Steintisch, der, wie der Hotelbesitzer sagte, „fast ein antikes Alter“ hatte. Über diesen Tisch breiteten die Frauen ein großes weißes Tuch, dessen Enden fast den Boden berührten. Der Hotelbesitzer brachte mir ein Glas Wein in einem blauen Terrakotta-Becher, auf dem dunkle pfeilartige Stäbe hochragten. Der Bruder rauchte unentwegt Zigaretten und verzog sich in die Küche. Nun, hieß es, sei es an der Zeit, den Oktopus aus dem Bassin zu holen.

Ich ging noch einmal hinüber zu dem Bassin. Das Tier war vollkommen erschöpft. Seine Fangarme hingen lose herab, die Augen waren bereits zur Hälfte geschlossen. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass ich dieses Wesen verzehren sollte, dass etwas von diesem Körper in meinen Magen gelangen sollte. Die einzige Offenbarung, die ich mir vorstellen konnte, war die eines ungeheuren Ekels. Ich sah auf die Gitterstäbe hinunter. Neben mir erschien der Bruder des Hotelbesitzers. Die Augen des Tieres öffneten sich. Der Bruder gab mir zu verstehen, ich sollte mich ein Stück entfernen. Die Tentakeln schoben sich erst vorsichtig, dann schneller und mutiger über den Bassinrand; das Wasser tropfte in kleinen, glitzernden Perlen von den Halt suchenden Armen ab. Mit einem blitzschnellen Ruck der Verzweiflung überwand das Tier den Rand des Bassins und landete auf dem schmutzigen Boden zwischen Grasmulden und Steinen. Der pilzartige Kopf schob sich in die Höhe. Die Augen waren schreckgeweitet, als der Bruder zugriff und das Tier mit einer einzigen, kräftigen Handbewegung in einen weißen Plastikeimer zu werfen versuchte, jedoch entglitt ihm der Oktopus, ein kurzes Sich-Entwinden, das binnen einer Sekunde mit einem dumpfen erdigen Aufklatschen endete. Wie eine Kugel drehte sich das Tier auf dem Kopf, fiel zur Seite, streckte dabei wild rudernd seine Arme aus und schleppte sich mit ihnen voran über die Steine und das niedrige Gras. Der Bruder packte einen der Arme und schleuderte den Oktopus in die Höhe, so dass Wassertropfen durch die Gegend spritzten. Inmitten des staunenden Gelächters der Umstehenden, wirbelte er das Tier einige Male wie ein zur Lächerlichkeit verkürztes Lasso in der Luft. Ein hässlicher, fleischartiger Klumpen drehte sich da in seiner Hand  - der Bruder, Schweißperlen auf der Stirn, presste das Tier in den Eimer, auf den er rasch einen weißen Deckel drückte. Dann marschierte er in die Küche. Ich warf die Zigarette weg. Mir war schwindlig. Ich ging zum Strand hinunter und wusch mir das Gesicht. Ruhig und weich lag das Nachmittagslicht auf dem glitzernden Wasser in der Bucht.

Als die Dunkelheit hereinbrach, zündete der Hotelbesitzer die Fackeln an, pfahlartige Standfackeln, die er in der Nähe des Zauns postiert hatte. Die Flammen züngelten schwach nach oben und verbreiteten rußartigen Rauch um sich. 

Nach den Vorspeisen wurde der Oktopus aufgetragen. Krebsrote, zu kleinen Würsten zerschnittene Stücke der Fangarme gelangten auf die Teller und der Bruder zeigte uns, wie man richtig die Zitronen über sie auspresste. Er schnitt sauber mit dem Messer mehrere Zitronen in einzelne Hälften, legte sie in die Innenfläche der rechten Hand, so dass es aussah, als würden lauter kleine Kükenkörper zusammengepresst, dann pfiff er durch die Zähne und ließ den Saft aus den Fruchthälften in parallel nebeneinander laufenden Strahlen auf die zerhackten Tentakeln träufeln. 

Ich wollte nichts von dem Oktopus essen und gab vor, mir wäre schlecht, aber der Hotelbesitzer ließ den Einwand nicht zu. Er nickte mir lächelnd zu und legte seine Hand ruhig auf meine Schulter.

Ich schnitt mit dem Messer ein kleines Stück von den roten Tentakeln ab. Es schmeckte, als würde man auf ein Stück angewärmtes, zähes Fleisch beißen; lediglich die Säure der Zitrone, die sich in der Tiefe der Arme ausgebreitet hatte, hinterließ einen süßlich würzigen Geschmack auf der Zunge. Die Gäste lobten das Mahl. Alle wollten mit dem Hotelbesitzer und seinem Bruder anstoßen. Eine ältere Frau lachte mich an. Sie schwenkte ihre Gabel mit einem aufgespießten Stückchen Oktopus in meine Richtung und wippte damit auf und ab, als wollte sie mich ermuntern, Unmengen mehr davon zu verschlingen. Ein anderer Mann lachte ebenfalls, zeigte seine schlechten Zähne, und biss gleich in zwei Tentakeln auf einmal. 

Ich fragte mich, was mit den Augen des Tieres geschehen war. Lagen sie vielleicht irgendwo, getrennt voneinander, auf der Holzplatte mit dem grünen Lauchfilm oder waren sie in einem Abfalleimer gelandet, tot und erloschen in einem schäumenden Haufen aus Gemüseresten versunken? 

Ich gab vor, eine Zigarette rauchen zu wollen, und ging in die Küche, um mir die Augen anzusehen – mit der insgeheimen Erwartung, in ihnen einen Abglanz ihres vergangenen Meereslebens zu entdecken. Ich fand sie in einer kleinen Schale, zwei gallertartige Reste, die kaum noch als Augen zu erkennen waren. Ich setzte mich an den Küchentisch, betrachtete die Schale und die zwei klebrigen Kugeln auf dem grün mäandernden Schalenmuster, das an die Zweige von Olivenbäumen erinnerte. Wie aufgeblasene Froschleiber verdämmerten sie dort, umgeben von einem wässrig-rötlichen Sud. Ich dachte daran, dass diese toten Augen einmal in die Tiefe des Meeres geblickt hatten, dass sie, hätten sie zu einem menschlichen Wesen gehört, Berichte über das graue, dunstige Nichts dieser Weiten hätten abgeben können, über Riffe, Sandbänke, Muschelberge, gelb- und rotschuppige Fische und über seltene, von weichen Strömungen bewegte Pflanzen. Und zu der Traurigkeit des Anblicks kam die seltsame Einsicht, dass hinter den Augen wohl niemals ein Gedächtnis existiert hatte. 

In dieser Nacht träumte ich in dem Hotel am Meer davon, dass die Tentakeln des Oktopus wieder zum Leben erwachten; sie fanden zu einem Körper zurück, zu einem festen, klaren Herzschlag und einem Augenpaar, das ohne Neugierde und Scheu meinen Blick suchte. Und selbst die Bestandteile, die in den Körpern der Gäste verschwunden waren, fügten sich wieder in den ursprünglichen Körper ein, allerdings mit zarten knotenartigen Verwachsungen, die den nun vor mir erscheinenden, rudernden Bewegungen des Tieres etwas Künstliches und Willkürliches verliehen. 

Und so wie man nach einem langen Tag am Meer das Auf und Ab der Wellen als Geräusch und Bewegung in sich wiederfinden kann, so berührten die Saugnäpfe, vor- und zurückgreifend, die inneren Glaswände meines Traums, anhaftend für einen Augenblick, dann verschwand das Tier endgültig aus der Welt, selbst aus dem kuriosen Kerker der zufälligen Erinnerung.